Martinus Letterie, Henk Robeer, Gerrit Meerbeek … wenn das Wort nicht so abgedroschen wäre – sie könnte man als Helden bezeichnen. Sie haben etwas getan, was nicht nur sehr mutig, sondern im wahrsten Sinne des Wortes einzigartig war in Europa: Sie haben ihre Arbeitskollegen und die Belegschaften anderer Werke in Hilversum zum Streik aufgerufen.
Aber nicht zu einem Streik um mehr Lohn oder bessere Arbeitsbedingungen, sondern sie wollten gegen die Verfolgung der jüdischen Bürger/innen in ihrem Land, den Niederlanden nämlich, protestieren.
Und das war das wirklich einzigartige an diesem Streik, denn nirgendwo anders in Europa als in den Niederlanden hat es eine derartige Initiative gegen die Verfolgung der jüdischen Bürger/innen gegeben.
Mit den Worten „Staakt! Staakt!“ („Streik t! Streikt!“) liefen sie durch die Werkshallen einer Radio- und Elektronikfabrik – und viele folgten ihnen. Der Aufruf zum Streik hatte von Amsterdam ausgehend viele Städte der Niederlande, und so auch Hilversum, erreicht und hatte nichts weniger zum Ziel als einen Generalstreik.
Dieser Streikaufruf war letztlich nicht erfolgreich (angesichts der Übermacht von Polizei und deutschen Besatzungstruppen nicht überraschend) aber diese Initiative ergriffen zu haben, das ehrt diese Arbeiter und ihre Kolleg/innen für alle Zeiten
Seit fünf Jahren findet in Hilversum eine Veranstaltung am Ort des Geschehens statt, dort, wo in den 30er und 40er Jahren die Radio- und Elektronikfabrik stand.
Das Foto zeigt Teilnehmer/innen der Gedenkveranstaltung am 26.2.2022. Dort steht auch ein Denkmal, das an die ehemalige Radio- und Elektronikfabrik erinnert.
Von Jahr zu Jahr nehmen immer mehr Personen an dieser Veranstaltung teil – über 100 waren diesmal dem Aufruf des Komitees gefolgt.
https://www.februaristakinghilversum.nl
Martine Letterie, Präsidentin der Amicale Internationale Neuengamme, hat uns das Manuskript ihrer Rede zur Verfügung gestellt:
Wir stehen hier an der Stelle, an der sich die Pförtnerloge der NSF, der niederländischen Signalfabrik, befand. Mein Großvater Martinus Letterie arbeitete dort als Lagerverwalter. Er wohnte mit seiner Frau und seinen drei Kindern praktisch um die Ecke: in der Siemensstraat, Nummer 17. Mein Vater Frank war der Älteste, er war im Oktober 1941 zehn Jahre alt. Seine Schwester Tineke war zwei Jahre jünger, und im April 1941 bekamen sie einen kleinen Bruder, Jan.
Frank erinnert sich noch gut daran, wie er seinen Vater nach der Arbeit hier abholte. Er stand gegenüber dem Tor und wartete darauf, dass Martinus herauskam. Er hatte die Stelle bei der NSF nach einer langen Phase der Arbeitslosigkeit erhalten.
Martine Letterie während ihrer Ansprache
In den Krisenjahren war sein früherer Arbeitgeber in Konkurs gegangen und Martinus fand sich auf der Straße wieder. Dadurch änderte sich die Situation seiner Familie drastisch. In kurzer Zeit zogen sie dreimal um, jedes Mal in ein kleineres, billigeres Haus, und landeten schließlich in der Siemensstraat. Martinus erhielt zwar Unterstützung, aber elf Gulden pro Woche reichten nicht zum Leben. Die Miete allein betrug zum Beispiel 5 Gulden. Er tat alles, was er konnte, um einen Job zu bekommen, und versuchte auf alle möglichen Arten, etwas Geld hinzuzuverdienen. Das war nicht einfach, denn die Arbeitslosen mussten sich jeden Tag einen Stempel holen, um zu beweisen, dass sie keine andere Arbeit hatten.
Durch all dies und die neuen Freunde, die er in dieser Zeit gewann, änderten sich Martinus‘ politische Ansichten. Während er früher für die SDAP (die Vorgängerin der PvdA) gestimmt hat, wählt er jetzt wahrscheinlich eine linksextreme Partei. Er schloss sich der VVSU, der Vereinigung der Freunde der Sowjetunion, an und war eine Zeit lang sogar Vorsitzender ihrer Hilversumer Sektion. Als er 38/39 die Stelle bei der NSF erhielt, trat er aus der Partei aus und seine wilden politischen Jahre waren vorbei.
Offiziell war die VVSU ein Verein, der Informationen über die Kultur in der Sowjetunion verbreitete, aber in Wirklichkeit war sie kommunistisch. Es war ein großer Club, der Landtage organisierte, zu denen Zehntausende von Menschen aus dem ganzen Land kamen. Ich habe die Reden von einem solchen Landestag gelesen. Bemerkenswert ist, dass sie sich mit dem Faschismus in Deutschland befassten und vor ihm warnten.
Währenddessen blieben die meisten anderen Niederländer lange Zeit unwissend über die Entwicklungen in Deutschland. Um das befreundete Nachbarland nicht zu verärgern, verweigerte die niederländische Regierung der Presse lange Zeit die Berichterstattung über diese Angelegenheit.
In den Kreisen, in denen meine Großeltern lebten, war das ganze Ausmaß des Terrors des Faschismus schon sehr früh bekannt. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland 1933 wurden ihre politischen Gegner, Sozialdemokraten und Kommunisten, verfolgt, verhaftet und in Konzentrationslager gesperrt. So wurde möglicher Widerstand im Keim erstickt.
Als die deutsche Armee am 10. Mai 1940 in die Niederlande einmarschierte und nach der Kapitulation zurückblieb, waren Martinus, seine Frau und seine Freunde sehr besorgt.
Für viele Niederländer schien das erste Jahr der Besatzung nicht allzu schlimm zu sein. Im Allgemeinen gab es also wenig Widerstand. Hier in Hilversum schrieb der SDAP-Stadtrat David Lopes Diaz bis 1940 Artikel gegen den Faschismus, und der 18-jährige Student Bill Minco wurde im Januar 1941 wegen Widerstandsaktivitäten verhaftet, aber das waren Ausnahmen.
Im Februar 1941 erreichten die Auseinandersetzungen zwischen NSB-Kampfgruppen und kämpferischen jüdischen Jungen in Amsterdam einen fieberhaften Höhepunkt. Als ein NSB-Mitglied getötet wurde und ein deutscher Polizist Ammoniak ins Gesicht bekam, ließen die Besatzer als Vergeltung 425 junge jüdische Männer am helllichten Tag verhaften.
Die Empörung der Amsterdamer Bevölkerung war groß, und die KPN, die niederländische kommunistische Partei, nutzte dies aus und rief zu einem Generalstreik gegen Antisemitismus auf. Am 25. Februar wurden Flugblätter mit der Aufforderung verteilt: Staakt! Staakt! Mit diesen Flugblättern sprangen die Menschen auf die Züge in Richtung Bussum, Haarlem, Utrecht, Velzen, Zaandam und Hilversum. Gerrit Meerbeek, ein Angestellter der Fokker-Fabrik in Amsterdam, radelte zur NSF und schaffte es über einen Mitarbeiter, die Nachricht an die NSF weiterzuleiten. Laut Bertrams, dem Vorgesetzten meines Großvaters Martinus, war er einer derjenigen, die durch die Fabrik liefen, um zum Streik aufzurufen. Er half, die Maschinen abzuschalten.
Die zweitausend Arbeiter strömten heraus und riefen „Streik, Streik“. Die Streikenden zogen von Fabrik zu Fabrik, ein Unternehmen nach dem anderen wurde entlassen. Am nächsten Tag versammelten sich zehntausend Menschen im Zentrum von Hilversum. Am Rathaus wurden sie von deutschen Soldaten konfrontiert. Der NSB-Bürgermeister hatte die Hilfe einer in Amersfoort stationierten Armee-Einheit in Anspruch genommen. Die Streikenden kehrten nach Hause zurück, aber sie hatten ihr Anliegen vorgetragen.
Die Streikführer wurden verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Gerrit Meerbeek war ursprünglich zum Tode verurteilt worden, doch wurde das Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.
Der Hilversumer Widerstandskämpfer Henk Robeer sagte in einem Interview: „SDAP-Mitglieder und Kommunisten wurden von der Polizei registriert. Nach dem Streik im Februar war es für unsere kleine Gruppe an der Zeit, unterzutauchen. Schließlich waren wir schon vor dem Krieg bei der Polizei registriert.
Und so war es auch. Seit 1925 führte die niederländische Central Intelligence Agency eine Liste potenziell gefährlicher Personen. Auf der Liste von 6400 Personen befanden sich nur drei Rechtsextremisten, der Rest waren Linksextremisten. Meine beiden Großeltern standen auf dieser Liste.
Als Hitler am 22. Juni 1941 den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion brach, war dies der Anlass für den Sicherheitsdienst, die so genannte KPN-Aktion einzusetzen. Innerhalb einer Woche wurden 600 mutmaßliche Kommunisten verhaftet, die sich auf die Liste des niederländischen Zentralgeheimdienstes stützten. Zur gleichen Zeit geschah das Gleiche in Frankreich und Belgien.
Mein Großvater Martinus, seine Freunde Max und Bram Roodveldt, Jan Achterbos und das Ehepaar Jan und Rie Nodde – Odinot wurden am 25. Juni 1941 aus ihren Betten geholt und ins Lager Schoorl gebracht. Dort wurde Achterbos freigelassen. Mein Großvater, die Roodveldts und Jan Nodde kamen über das Lager Amersfoort in das KZ Neuengamme. Martinus starb dort nach fünf Wochen an Typhus, Max und Bram wurden im Juni 1941 in Bernburg vergast und Jan Nodde wurde im September desselben Jahres in Dachau getötet. Rie Odinot schlug einen anderen Weg ein. Über eine Reihe von Gefängnissen kam sie schließlich in das Konzentrationslager Ravensbrück, das sie überlebte. Nach vier Jahren kehrte sie nach Hilversum zurück. Sie wurde Mitglied der CPN, Ratsmitglied in Hilversum und schließlich sogar Parlamentsabgeordnete.
Der Februarstreik war einzigartig in Europa. In keinem der besetzten Länder hatte es einen so großen Streik gegen den Antisemitismus der Besatzer gegeben. Aus den Worten von Henk Robeer können wir schließen, dass die Streikenden sich des Risikos bewusst waren, das sie eingingen, und dass sie dennoch für die schreckliche Behandlung ihrer Mitmenschen eintraten. Sie waren mutig, und ich kann nur hoffen, dass wir alle diesen Mut zur rechten Zeit haben.
Beeindruckend auch die Rede einer Schülerin eines Hilversumer Gymnasiums. Sie schilderte die Protestaktion von Schülerinnen und Schülern ihrer Schule, die einige Monate nach dem Streik (im August 1941) stattfand. Diese Jugendlichen waren ebenso mutig wie die Erwachsenen – sie protestierten gegen die Verfolgung ihrer jüdischen Klassenkamerad/innen: Zum Beginn des neuen Schuljahres hatten sie erfahren, dass die jüdischen Schüler/innen die Schule nicht mehr besuchen durften.
Zur Vertiefung dieser Link zum Deutschlandfunk:
https://www.deutschlandfunk.de/vor-80-jahren-der-februarstreik-in-den-besetzen-100.html
Wer die niederländischen Suchbegriffe „Hilversum – februaristaking“ in die Suchmaschine eingibt, findet auch einige Fotos zu diesem Anlass.
In diesem Jahr wurde der Gedenkstein enthüllt, der an den Februarstreik 1941 erinnert.